Seit den 1990er-Jahren reflektiert der Künstler Gerold Tagwerker in Fotos, Skulpturen und Installationen formale sowie inhaltliche Aspekte modernistischer Architekturen, die in den letzten 50 Jahren die Entwicklung und die Veränderungen des Stadtraumes, dessen Wahrnehmungsbedingung und den daran geknüpften Transformationsprozess urbanen Lebens entscheidend geprägt haben.
Die BetrachterInnen befinden sich vor Tagwerkers Arbeiten nicht in einer passiven Haltung des In-sich-Aufnehmens. Vielmehr werden sie zu aktiven HandlungsträgerInnen — sie schreiben sich in die Arbeit ein und schreiben sie fort. Besonders deutlich wird dies an Tagwerkers Arbeiten für den öffentlichen Raum. Niemals reflektieren sie „nur“ die spezifischen städtebaulichen und architektonischen Gegebenheiten des Orts. Sie behandeln stets auch dessen Tradition und dessen Funktion als Agitationsfeld kultureller und gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung.
So auch hier: Tagwerker gestaltet in Zusammenarbeit mit Anna Wickenauser an den Wänden der Fußgängerunterführung Landstraßer Gürtel/Adolf-Blamauer-Gasse und Ghegastrase ein horizontales Rasterband aus grauen Keramikfliesen. Längs und quer intermittierende Spiegelfliesen geben ihm eine ornamentale Rhythmisierung. Der Kontrast von matten Keramik- und reflektierenden Spiegelfliesen öffnet durch seine vielfältigen Licht- und Farbbrechungen die Unterführung nicht nur illusionistisch zu beiden Seiten. Die Fußgängerunterführung erhält durch ein horizontal angebrachtes Lichtband auch eine längsgerichtete Dynamisierung. Das natürliche Licht des umgebenden Außenraums wird in den architektonischen Innenraum verlagert und verschränkt die Dimensionen von Innen und Außen — zwischen oberirdischem öffentlichen Stadtraum und unterirdischem Durchgangsraum. Die Unterführung wird zum ästhetischen Handlungsspielraum mit einem Wechselspiel zwischen natürlichem und künstlichem Licht, zwischen Nah- und Fernraum.
Die PassantInnen sehen sich beim Durchschreiten mit einem Kontinuum möglicher Anschauungen konfrontiert: Die Spiegelbilder des Selbst und des Anderen konstituieren sich aus einer unauflösbaren Verschränkung kleiner Momentaufnahmen aus Farbigkeit und Details. So werden die BetrachterInnen zugleich zu ProtagonistInnen, RegisseurInnen und ZuseherInnen eines sich ständig verändernden, zeitbasierten — fast filmischen — Wahrnehmungserlebnisses. Das subjektive, schnell geschnittene „Kopfkino“, das durch die persönliche Bewegungsgeschwindigkeit entsteht, erlöscht erst nach „Ende der Vorstellung“ bei der Passage des lichterfüllten „Screens“ am Ausgang der Unterführung, beim Eintauchen in die städtische Wirklichkeit.
In seinen Arbeiten greift Tagwerker auf vorgefundene, industriell gefertigte Materialien wie Leuchtstoffröhren, Spiegelglas, Fliesen oder verzinkte Gitter zurück, um — auch angelehnt an Minimal Art — Bedeutungsfelder wie Licht, Rhythmus, Raster, Perspektive und Wahrnehmungserfahrung zu untersuchen.
Im Gegensatz zu den Minimalisten, die nach Objektivität, Entpersönlichung, Nichtkomposition und Non-Relation strebten und jegliche subjektive Involvierung ablehnten, bezieht sich Tagwerker bewusst auf Formen, deren architektonische Referenzen und kulturhistorische Aufladung er stets mitreflektiert. Auch die von den VertreterInnen der Minimal Art fast dogmatisch verfolgte Wahrnehmungstheorie des neutralen Betrachtersubjekts wird bei Tagwerker von der Auffassung abgelöst, dass weder Formen noch deren visuelle Repräsentationen und Rezeption frei von soziokulturellen Konventionen und Aspekten sind.
Text: Fiona Liewehr
Ort
Fußgängerunterführung Landstraßer Gürtel/Adolf-Blamauer-Gasse und Ghegastrase, 1030 Wien
Galerie
Weiterführende Info
Künstler
Gerold Tagwerker
*1965 in Feldkirch (AT), lebt und arbeitet in Wien
geroldtagwerker.com
Dieses Projekt wurde im Rahmen eines künstlerischen Wettbewerbs als Siegerprojekt gekürt. Für mehr Informationen folgen Sie diesem Link:
Zeitraum
Seit 18. September 2012
Keramik- und Spiegelfliesen
52 x 2,7 m
Vermittlung - Veranstaltungen
- Eröffnung Dienstag, 18. September 2012 / 17:00